Ein
(ausgesprochen schlechter) Artikel bei der Tagesschau, der den Wiener mit dem Stuttgarter Bahnhofsneubau vergleicht, brachte mich auf einige Gedanken über Besonderheiten des Protests gegen Stuttgart 21.
Im Normalfall geht man eigentlich davon aus, dass Massenproteste gut funktionieren, wenn sie eine einfache Message haben. Als Grund hierfür wird etwa häufig angegeben, dass es einem in den Medien meistens nur gelingt, eine sehr kurze Nachricht unterzubringen. „Gegen AKWs, denn sie sind gefährlich“ wäre ein solches Beispiel. Damit hat man zwar noch nicht jeden überzeugt, aber es ist zumindest sofort klar, worum es geht. „Gegen Grundlastkraftwerke, weil sie aufgrund ihrer Unflexibilität den Ausbau der erneuerbaren Energien blockieren und damit schädlich für den Klimaschutz sind“ wäre jetzt in dem Themenbereich das Gegenbeispiel – das zu erklären, da braucht man schon ein paar Minuten.
Nun scheint mir aber der Stuttgarter Protest ein eklatantes Gegenbeispiel – die Message ist alles andere als kurz und einfach. Die Menschen sind gegen einen Bahnhofsneubau – aber nicht weil sie gegen Bahnhöfe sind. Die Proteste werden ganz wesentlich von Fahrgast- und Umweltverbänden getragen, die sich für besseren Bahnverkehr einsetzen. Auch nicht weil sie gegen Bahnhofsmodernisierung sind – eines der Protestsymbole ist ja das
K21-Logo, welches für das Konzept eines optimierten Kopfbahnhofes steht.
Die Motivation lässt sich ungefähr so zusammenfassen: Die Menschen sind gegen Stuttgart 21, weil sie die Befürchtung haben, dass hier gut funktionierende Bahninfrastruktur durch schlechter ersetzt werden soll (8 statt 16 Gleise). Sie sind außerdem dagegen, weil die Kosten bereits jetzt aus dem Ruder laufen und darunter andere Bahnprojekte (sowie Sozial- und Kulturausgaben) zu leiden haben.
Die Redebeiträge auf den Demos sind vergleichsweise inhaltlich komplex. Das letzte Mal, als ich dabei war, sprach ein Energiewissenschaftler (Dr. Joachim Nitsch) über die Auswirkungen des Güterverkehrs auf den Klimawandel. Das mal davor ein Geologe (Dr. Jakob Sierig) über die Gefahren des Quellgipses im Stuttgarter Untergrund. Das ist jetzt natürlich kein komplettes Alleinstellungsmerkmal, aber (ohne das empirisch überprüft zu haben) die Zahl der Menschen mit wissenschaftlichem Hintergrund bei den Rednern finde ich schon bemerkbar.
Spüren tut man die vergleichsweise Komplexität des Themas oft daran, dass Menschen, die nicht aus Stuttgart kommen,
oftmals eher ratlos auf die Proteste reagieren.
Von den Auswirkungen habe ich das Gefühl, dass das eine ganz große Stärke der Proteste ist. So wirkt es einigermaßen hilflos, wenn man den Protesten vorwirft, sie hätten ja keine Ahnung. Jedem halbwegs informierten Beobachter ist sofort klar, dass Frau Merkel noch viel weniger Ahnung hat, wenn sie den Grünen vorwirft, sie seien ja sonst immer für die Bahn und hier plötzlich nicht. Auch ist ein Artikel wie der oben zitierte bei der Tagesschau natürlich völlig absurd: Abgesehen davon, dass in Wien auch ein Kopfbahnhof durch einen Durchgangsbahnhof ersetzt werden soll, haben die beiden Projekte
praktisch nichts miteinander gemeinsam.
Und das Überraschende: Es funktioniert total gut. Es gelingt den Protesten, über mehrere Woche zehntausende auf die Straßen zu mobilisieren. Wohlgemerkt in einer Region, die bislang nicht unbedingt für Massenproteste bekannt war.
Eine wirkliche These, warum das so ist, habe ich noch nicht. Eine (optimistische) Interpretation wäre, dass das Internet die Menschen unabhängiger von traditionellen Medien macht, die alles auf zwei Sätze verkürzen wollen. Eine weniger optimistische wäre der gerade häufig geäußerte Vorwurf, dass es den Protesten „eigentlich um etwas ganz anderes geht“ - das entspräche aber überhaupt nicht der Wahrnehmung, die ich von den Protesten mitgenommen habe. Überzeugen tun mich bisher beide Interpretationen nicht.
Fazit: Falls hier Soziologen mitlesen, die sich der Bewegungsforschung verschrieben haben - die Stuttgart 21-Proteste sind sicher ein total spannendes Untersuchungsobjekt. Zweites Fazit: Vielleicht ist es auch möglich, gegen „Grundlastkraftwerke, weil sie den Ausbau der erneuerbaren Energien blockieren“ Massen zu mobilisieren – oder anders ausgedrückt: Proteste mit komplexer Message können funktionieren.